„Man muss jeden Tag nehmen, wie er kommt“

Ruth Hauser, 101 Jahre

Als ich im Dr. Vöhringer-Heim das Zimmer von Frau Hauser betrat, tat ich das mit einer gewissen Ehrfurcht, schließlich begegnet man nicht alle Tage einem Menschen, der eine so lange Wegstrecke hinter sich hat und ich war gespannt, was mich dort erwartete. Sie saß an einem kleinen Tisch und war mit der Zeitung beschäftigt, womit sie mich gleich überraschte, aber tatsächlich ist die tägliche Zeitungslektüre für sie etwas Selbstverständliches. „Das ist wichtig, man muss wissen, was in der Welt los ist“, erklärte mir die rüstige Dame in ihrem nunmehr 102. Lebensjahr und ich erfahre viel von einer Frau, die ein arbeitsreiches Leben hinter sich hat, aber nach wie vor sehr interessiert am Leben teilnimmt. Frau Hausers Lebensweg begann am 23.08.1920 in Göttelfingen, einem kleinen Dorf im Nordschwarzwald, das heute zur Gemeinde Seewald gehört und ca. 430 Einwohner zählt. Sie wuchs dort als Älteste von 7 Kindern auf dem landwirtschaftlichen Hof ihrer Eltern auf. Von klein auf war sie dort eingebunden in die täglich anfallende Arbeit und musste ihrer Mutter vor allem auch bei der Betreuung ihrer jüngeren Geschwister helfen. Ihr Vater war die meiste Zeit im eigenen Sägewerk im Nagoldtal beschäftigt. So lernte sie sehr früh, was es heißt, eine Familie zu versorgen. In jener Zeit erlernte sie zum Beispiel auch das Spinnen, eine Fähigkeit, die heute wohl kaum noch jemand beherrscht. „Ich kann auch melken“, merkte sie nicht ohne Stolz an und klärt mich darüber auf, was man hierbei beachten muss. Für eine kurze Zeit war sie auch „Haustochter“ bei einer Familie in Buttenhausen, im Lautertal. In Buttenhausen begegnete sie bei einer Geburtstagsfeier auch ihrem späteren Mann Eugen, den sie 1948 heiratete. Das glückliche Paar musste aber zunächst noch rund zwei Jahre getrennt voneinander leben, sie in Göttelfingen, er in Stuttgart, wo er als Beamter bei der Stadt angestellt war. Erst 1950 zogen sie im Stuttgarter Osten zusammen und im gleichen Jahr wurde ihre Tochter geboren, 3 Jahre später dann der Sohn, der heute in Berlin lebt. Es folgte 1955 der Einzug in das eigene, neu erbaute Haus in Stuttgart – Sillenbuch, wo sie fast 60 Jahre verbrachte, bis sie vor etwa 7 Jahren, infolge eines Sturzes, gezwungen war, in das Dr. Vöhringer-Heim nach Nürtingen zu ziehen. Ihr Mann Eugen war zu dieser Zeit schon lange nicht mehr bei ihr, er starb 1988. Seither lebt sie in der Nähe ihrer Tochter, die seit 1979 mit einem „Nürtinger“ verheiratet ist. Während unseres Gesprächs kam ihr Schwiegersohn hinzu und ich erfahre, dass sie letztes Jahr sogar eine Corona Infektion überstanden hatte und im August dieses Jahres, in Begleitung ihres Sohnes, für zwei Wochen nach Berlin reiste, per Flugzeug! Schließlich verriet sie mir auch noch das Geheimnis ihres hohen Alters: „Weil ich immer viel arbeiten musste.“ Früher wanderte sie häufig mit ihrem Mann, der Wanderführer im Schwäbischen Albverein war. Deshalb gilt für sie auch heute noch der Grundsatz: „Man muss sich viel bewegen!“ Sie sitzt während unseres Gesprächs zwar in einem Rollstuhl („mein Auto“), kann aber am Rollator gehen und macht zweimal in der Woche unter Anleitung Laufübungen, damit sie nicht einrostet. Aber auch die guten Gene scheinen ihren Anteil zu haben, denn bis auf eine Ausnahme sind alle ihre Geschwister über 90 Jahre alt geworden. Eine Schwester und ein Bruder leben noch. Wenn im Dr. Vöhringer-Heim alle 4 Wochen Brot gebacken wird, freut sie sich ganz besonders. Das erinnert sie wieder an früher, als sie selbst alle 2-3 Wochen aus einem halben Zentner Mehl Brot gebacken haben, natürlich alles von Hand!
„Ich habe ein interessantes Leben gehabt, aber man muss halt alles mitmachen.“ Jeden Tag so annehmen wie er kommt, so lautet also die Lebensweisheit einer 101-jährigen Frau, die nach einem arbeitsreichen Leben, die ihr noch geschenkte Zeit im Dr. Vöhringer – Heim in Nürtingen genießen kann. Ich verabschiede mich von Frau Hauser und gehe nachdenklich nach Hause. Eine bemerkenswerte Begegnung, die noch lange in mir nachhallt, liegt hinter mir.

Volker Döring, Autorenkreis Atmosphäre, VHS Nürtingen / 14.10.2021

 

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